Ohne profundes Wissen über ihre Entwicklung bleiben Aussagen zur Persönlichkeit Hochbegabter unvollkommen. Eigenarten und Verhalten erwachsener Personen sind besser zu verstehen, wenn die Prozesse ihrer Entwicklung bekannt sind. Sie bilden die Grundlage für ein umfassendes Verständnis der kindlichen Persönlichkeit. Aufbauend auf entwicklungspsychologischen Kenntnissen können Hemmnisse wirksamer verhindert und notwendige Förderungen gezielter dargeboten werden. Dadurch kann die Entfaltung der kindlichen Potentiale erleichtert und Fehlentwicklungen vorbeugend entgegen gewirkt werden. Ein Vorschulkind vor Unterforderung durch eine rechtzeitige Einschulung zu bewahren, wäre ein Beispiel für eine „präventive“ Fördermaßnahme.
Entwicklung, als Prozess lebenslang stattfindender körperlicher und psychischer Veränderungen, beginnt mit der Befruchtung einer Eizelle und endet mit dem Tod. Wollte man die gesamte Entwicklung Hochbegabter erfassen, wären systematische Untersuchungen von Geburt an bis zum Lebensende erforderlich, was aus forschungspragmatischen Gründen kaum möglich ist. Tausende von Neugeborenen müssten untersucht und frühestmöglich identifiziert werden, um dann eine genügend große Gruppe Hochbegabter mit entsprechender Kontrollgruppe bis zum Lebensende zu beobachten.
Der Mangel an entwicklungspsychologischem Wissen wird zwar beklagt und Forderungen nach systematischen Längsschnittstudien mit entsprechenden Kontrollgruppen gestellt, aber selten in die Tat umgesetzt. Die meisten Hochbegabtenstudien sind Querschnittstudien, bei denen die hochbegabten Kinder zu einem bestimmten Zeitpunkt untersucht und mit anderen Kindern (Vergleichsgruppen) verglichen werden. Gemittelte Gruppenwerte, auch wenn sie an zwei Zeitpunkten erhoben wurden, sagen wenig über die Entwicklung der Kinder aus: Was benötigt wird, sind Angaben über individuelle Entwicklungsprozesse und -verläufe, die erst die Beantwortung folgender Fragen gestatten wie:
- Was wird aus einem Kind, das mit fünf Jahren als hochbegabt identifiziert und früh eingeschult wurde, wie ergeht es ihm in der Grundschule, im Gymnasium?
- Wie erlebt eine Schülerin, die mit acht Jahren eine Klasse übersprang und ins Gymnasium überwechselte, ihre Mitschüler in der Pubertät?
- Bleiben ihre Leistungen gut oder sind große Leistungsschwankungen zu verzeichnen?
Die Erforschung der Entwicklungsverläufe Hochbegabter im Vergleich zu Nicht-Hochbegabten gestattet die Überprüfung einer mutmaßlichen besonderen „Verletzlichkeit“ bzw. Robustheit, Hochbegabter. Nur die früh einsetzende, fortlaufend wiederholte Erfassung der die Entwicklung erleichternden bzw. erschwerenden, äußeren Bedingungen bei den als dispositionell unterschiedlich ausgestatteten hochbegabten Kindern, erlaubt Aussagen über mögliche Entwicklungsbesonderheiten Hochbegabter.
Unter der Annahme einer wechselseitigen Beeinflussung von Organismus- und Umweltbedingungen wären für dispositionell „anfällige“ Kinder, d.h. für solche mit „schwierigem Temperament“ bei widrigen Umweltbedingungen negative Entwicklungen zu erwa ten. Dabei ist nicht geklärt, ob Hochbegabte stärker als durchschnittlich Begabte über besondere Widerstandskräfte bzw. sogenannte „selbstheilende Kräfte“ verfügen. In Deutschland durchgeführte Studien – Münchner Hochbegabungsstudie, Marburger Hochbegabtenprojekt – sind längsschnittlich angelegt, d. h., die Kinder werden zu verschiedenen Zeitpunkten untersucht. Sie setzen aber nicht bereits im Vorschulalter sondern erst mit dem Grundschulalter ein (2. bzw. 3. Klasse). Da anfällige Kinder bei Vorliegen extrem hemmender Bedingungen im Grundschul- oder Jugendalter möglicherweise nicht mehr als hochbegabt erkennbar sind, muss eine Hochbegabtenforschung früh einsetzen, um die entsprechenden Erkenntnisse zu erarbeiten. Sie sollte im Vorschulalter beginnen, und zwar bei den ca. drei bis vier Jahre alten Kindern.